Die mentalen Prozesse und das menschliche Verhalten sind nicht starr, sondern immer auf einem Kontinuum zwischen normal und abnormal zu sehen. Das bedeutet menschliches Verhalten ist immer multifaktoral und multidimensional.
Eine Vielzahl von mentalen Prozessen und menschlichen Verhaltensweisen sind erlernt. Dies gilt auch für menschliches Bindungsverhalten. Wir lernen von unserer Umwelt, also dem sozialem Kontext in dem wir aufwachsen. So wie wir Verhalten erlernen, so ist es auch möglich dieses Verhalten zu erkennen, also bewusst zu machen und dadurch zu verändern.
DIE NEUROBIOLOGIE DER BINDUNG
Folgendes Beispiel betrachtet den Ablauf zwischen Mutter und Kind. Bei der Mutter hat sich durch eigene belastende Kindheitserfahrungen ein negativ besetztes inneres Modell zur Interaktion ausgebildet. Durch frühen chronischen Stress hat sich eine Dominanz des Selbsterhaltungssystems (Kampf oder Flucht) gegenüber dem Arterhaltungssystem (Bindung) herausgebildet. Dies bedeutet, das Selbsterhaltungssystem (Kampf oder Flucht) wird bevorzugt aktiviert.
Angriff (Kampf) durch die Bezugsperson:
Das Kind weint oder schreit, die Mutter geht gestresst hin und schüttelt das Kind und schreit es an, dass es endlich still sein soll (Kampf).
Flucht der Bezugsperson:
Das Kind weint oder schreit, die Mutter schließt die Tür vom Kinderzimmer und geht fort, um das Schreien nicht zu hören (Flucht).
Neurobiologisch betrachtet wird durch das weinende Kind in diesen Fällen bei der Mutter das neuroendokroine Selbsterhaltungssystem/Stressreaktion anstelle des Bindungssystems aktiviert. Dies sorgt für Ausschüttung von Epinephrin/Norepinephrin, was die Motivation für Kampf oder Flucht erhöht. Es erfolgt beim Kind eine kurzfristige Stressreaktion und Ausschüttung von Glucocorticoiden, es hört auf zu weinen und eventuell wird das Bindungssystem unterdrückt. Das Kind entwickelt ein negativ besetztes inneres Modell der Interaktion (unsichere Bindung), wie dieses der Mutter.
Ergebnis:
Unsichere und sichere Bindung sind beides Antworten des Organismus. Diese Antwort ist aktiv angepasst an Ereignisse, die als unbewältigbar beziehungsweise als bewältigbar eingeschätzt werden. Dabei sind unsichere Bindungen mit dem Erleben von Stress und Hilflosigkeit verknüpft.
BINDUNGSTHEORIE nach Bowlby und Ainsworth
Die Bindungstheorie ist heute eine etablierte Disziplin in der Psychologie. Sie findet ebenso Beachtung in der Entwicklungspsychologie, der Psychoanalyse, der kognitiven Psychologie sowie in anderen psychologischen Paradigmen. Heute wird sie vor allem in Bezug auf die innerpsychischen Vorgänge hin erweitert. Die Erkenntnisse aus der Bindungstheorie haben sowohl die Verhaltenstherapie als auch die psychoanalytischen Therapien beeinflusst.
Die Bindungstheorie beschreibt in der Psychologie das Bedürfnis des Menschen, eine enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehung zu Mitmenschen aufzubauen. Sie wurde von dem britischen Kinderpsychiater John Bowlby und der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelt.
Ihr Gegenstand ist der Aufbau und die Veränderung enger Beziehungen im Laufe des Lebens. Sie geht von dem Modell der Bindung der frühen Mutter-Kind-Beziehung aus. Sie verbindet ethologisches, entwicklungspsychologisches, psychoanalytisches und systemisches Denken. Die Bindungstheorie wurde zu einer eigenständigen Disziplin, die einen Einfluss auf Wissenschaft und Praxis hat.
Die Feinfühligkeit der Mutter
Die Entwicklung der Bindungsqualität wird entscheidend von der Art und Weise des früheren Verhaltens der Pflegeperson gegenüber dem Kind beeinflusst. So stand bei den Untersuchungen die mütterliche Feinfühligkeit in enger Beziehung zu vielen positiven Verhaltensweisen der Säuglinge. Mütter der bindungssicheren Kinder sind feinfühliger, kooperativer, verfügbarer für das Kind und akzeptieren es auch mehr als Mütter bindungsängstlicher Kinder. Die Kinder feinfühliger Mütter suchten ihre Nähe bei Leid, lösten sich aber auch wieder von ihr, wenn sie getröstet waren, sie zeigten weniger Ärger, Aggression und Ängstlichkeit in Interaktion mit Mutter, vertrauten der Verfügbarkeit der Mutter und gingen auf Ge- und Verbote der Mutter ein. Kinder weniger feinfühliger Mütter zeigten hingegen entweder eine außergewöhnliche Unabhängigkeit von ihren Müttern, vermischt mit einzelnen Episoden unvermittelten Ärgers, oder eine gesteigerte Ängstlichkeit und Unzufriedenheit. Die Sicherheit der sicher gebundenen Kinder liegt nach Ainsworth darin, dass sie eine Erwartung bzw. eine innere Repräsentation ihrer Mutter generell verfügbar und responsiv bilden können.
Bindungsverhalten zu verschiedenen Personen
Kinder bauen jedoch i.d.R. zu mehreren Personen ein enges Vertrauensverhältnis auf. Die anderen Personen werden nicht selten sogar lieber aufgesucht, wenn es spielen und lernen möchte, wenn also das Bindungsverhaltenssystem nicht aktiviert ist und das Erkundungssystem vorherrscht. Hieraus lässt sich ablesen, dass nicht die Menge der Interaktion zwischen einem Erwachsenen und einem Kind für den Aufbau von Bindung ausschlaggebend ist, sondern vielmehr die Intensität der mit dem Kind verbrachten Zeit (so gehen Kinder oftmals ein sehr enges Bindungsverhältnis zum Vater ein, obwohl dieser meist weniger Zeit mit dem Kind verbringt). Bowlby sieht die Bedeutung einer responsiven Pflegeperson insbesondere darin, dass sie dem Kind angesichts der durch neue Reize hervorgerufenen Erregung hilft, organisiertes Verhalten aufrechtzuerhalten. Das Kind lernt so mit neuen und komplexen Reizen in einem vertrauten Kontext umzugehen. Bindung repräsentiert demnach das Vertrauen, das das Kind hinüber nehmen kann in neue Situationen.
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Eltern meist dieselbe Bindungshaltung zu ihren Kindern haben wie sie selber zu ihren Eltern. So ergaben sich hoch signifikante Zusammenhänge zwischen der durchschnittlichen Feinfühligkeit der Mütter im ersten Jahr und der Fähigkeit der Mütter, sich im Interview an Bindungserlebnisse ihrer eigenen Kindheit zu erinnern, sich überhaupt an vieles zu erinnern und noch heute ihre Gefühle von damals lebendig zu spüren.
Ihre Beate Landgraf